Deutsche Neuausgabe 2001

Teil I der autobiografischen Anton Wachter-Reihe von Simon Vestdijk:

Sankt Sebastian, Die Geschichte einer Begabung

(Fragment)


Jede Strafe kommt nách der Sünde, – und deshalb immer zu spät, genau wie die Reue. Im Falle Antons ging dies buchstäblich in Erfüllung, aus dem einfachen Grunde, dass nicht nur der saugende alte Mann, sondern keine einzige der andern Vorlagen ihn noch mit irgendeinem tieferen Interesse erfüllte. Mehr oder weniger mechanisch war er dabei, die sovielte Danae auf den sovielten Bogen Zeichenpapier-zu-drei-Cent zu malen und zu kolorieren, – aber im Grunde war es ihm gleichgültig, fast so gleichgültig wie ein Mühlchen oder ein sich kräuselnder Bach. Das kleine Gemälde, vor dem Tante Jo ihn mit kaltem Schweiß und einem Beginn von Fallsucht hatte wanken sehen, hatte ihn so geradewegs in die Seele getroffen, dass er alles andere darüber vergaß. Noch eínmal ging er mit ihr ins Museum, um es genauer zu betrachten, diesmal mit einem Riegel Schokolade in der Tasche und einem Glas warmer Milch im Magen, während Tante Jo, die für so eine stoische Herausforderung insgeheim wohl etwas übrig hatte, ein Fläschchen Kölnisch Wasser aus dem Geschäft mitgenommen hatte. Von Zeit zu Zeit beobachtete sie verstohlen den Saalwärter, der die behaarte Hand diesmal unbeweglich auf dem selben Knopf hielt, aber alles nahm ein gutes Ende. Selbst lehnte sie es ab, das kleine Gemälde zu betrachten, trotz ihrer heimlichen Wertschätzung der Laokoongruppe. Aber das Entsetzen, das sie während des ersten Besuches bei dem Jungen zu erkennen glaubte, befand sich jetzt in íhr, – fast pflichtgetreu, als könnte sie ihm dadurch helfen, – und also suchte sie Kraft im ‘Gebet ohne Ende’ und im sardonischen Kopf Willems des Dritten, während Anton mit seinen Impressionen rang und mit einem großen Stück Schokolade hinter den Backenzähnen. Als er nach kurzem Zögern das Gemälde betrachtete, enttäuschte es ihn. War dies alles? ‘Sankt Sebastian. A. Cano’ stand darunter. Er drehte sich um, füllte sich mit Erwartung, schaute von neuem. Und jetzt ging es besser. Dies war, in der Tat, wundervoll. Dies übertraf alles, was er je im Leben gesehen hatte! Der nackte Rumpf mit drei Pfeilen und den vier oder fünf Blutgerinseln, die in einem länglichen Kölbchen zur Ruhe klümperten, bezauberte ihn gerade sosehr wie das Gesicht, das auf die linke Schulter herabhing, diese angeschwollene, als verrenkt gemalte Schulter, in die ein Pfeil stach, so ordentlich steil und in der guten Richtung schräg, als würde damit geschrieben. Hochgezerrt und an einem Baum festgebunden war der rechte Arm, der den zweiten Pfeil enthielt; der dritte befand sich ein klein wenig unterhalb der Rippen, gleichfalls rechts. Das Gesicht war formlos, fast ohne Kinn, mit dicken Lippen, langen Wimpern, während zwei breite, verschwommene Furchen, unnatürlich weit über die Stirn hingezogen bis unter das wuschelige Mädchenhaar, den Ausdruck des Schmerzes verbürgten. Hätte man die Hand auf dieser Stirn gehalten, oder nur zwei Finger, denn sie war sehr niedrig, so hätte man ein weiches, schlummerndes italienisches Jungengesicht vor sich gesehen, ein kaum erschütterndes und gewiss nicht erhabenes Schauspiel. Sicherlich war es kein Meisterwerk, dieser Sankt Sebastian von A. Cano, und sogar der ungeübte Anton meinte Nachlässigkeiten und ungenaue Striche zu entdecken, die übrigens seine Begeisterung nicht im mindesten beeinträchtigten. Es ging ja nicht um die Mittel und Wege der Kunst, es ging um die Wirklichkeit, die hier abgebildet war; um das Seil mit den unglaublich verwickelten Seemannsknoten, um die Pfeile, die so glatt und zufrieden aussahen, – wie Gegenstände an der einzigen Stelle, wo sie hingehörten, – um diese Pfeile in dem Fleisch, und das Blut áus jenem Fleisch, um diese Haltung, die an Schlafen denken machte, an Schweben, und auch an Tanzen, weil der rechte Arm so zierlich gekrümmt war. Dieses Gemälde schmerzte, und zugleicherzeit faszinierte es ihn, und das wahrhaftig nicht durch den kostenlosen Aufwand mitleidiger Gefühle für einen gefolterten Heiligen. Was ihn betrifft, hätte Sankt Sebastian ein Dieb und ein Mörder sein können, der hier für seine Schandtaten büßte! Bis dahin hatte er wenig auf menschliches Elend geachtet; von Natur war er auch ziemlich unempfindlich dafür, er kannte nur seine eigenen Ängste, und deshalb hatte er diese Gewaltkur, die sogar die abgehärtete Tante Jo, mit ihrem verborgenen Sinn für das Leiden von Personen, größer als sie selbst, schaudern machen konnte, gebraucht, um einen Blick auf anderer Leute Kummer zu werfen, wie er früher zur großen Angstzeit den Jammer einer Katze und eines kleinen Mädchens benutzt hatte, um seinen Lebensmut zu steigern. Dies alles bedeutete nun solch ein zerschmetternder Sieg über die Angst, die er nicht mehr mit gleichen Waffen sélbst bekämpfte, sondern die einfach in einen ánderen Menschen hineingesteckt wurde, – das Umgekehrte von Mitleid also: er litt nicht mit Sankt Sebastian, sondern Sankt Sebastian mit ihm! – dass er wie neugeboren aus jenem Saal herauskam, hungrig, aber nicht schwach vor Hunger, und mit ungewöhnlich geröteten Wangen. Tante Jo sah ihn von der Seite an, wie einen in irgendeinen Teufelsritus Initiierten. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, sie um eine Ansichtskarte des bewunderten Gemäldes zu bitten, die es in den Drehapparaten sicherlich geben würde. Aber was sollte er mit dieser Ansichtskarte anfangen? Sankt Sebastian wollte er ja dóch nicht abmalen...

Das Gemälde ‘Sankt Sebastian’ von A. Cano wird seit 1955 Juan de Carreño de Miranda zugeschrieben; es befindet sich in Het Rijksmuseum in Amsterdam unter Catalognummer SK-A-1425

 


Aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen von Ydwine Schneider
unter Verwendung der neuen deutschen Rechtschreibung
Handgebunden von Mieke Vestdijk bei Verlag Mycena Vitilis
Der Roman zählt 268 Seiten, ISBN 90-75663-30-7, Preis ƒ 68,90
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