Der gestohlene Traum
De gestolen droom (1940), Simon Vestdijk
Benutzte Ausgabe: Stomme getuigen, 4. Auflage, 1969
Übersetzung: Holger E. Wiedenstried, 2002
Je mehr der Mann träumte, desto unabweisbarer stellte es sich für ihn
heraus, dass dieser eine Traum niemals dabei war. Je mehr er lernte, seine
Träume zu behalten, desto deutlicher wurde ihm, dass sie nichts mit dem
gemein hatten, was er als sechzehnjähriger Junge erfahren hatte; eines
Frühlingsmorgens, als das Gezwitscher von Vögeln oder ein Sonnenstrahl
auf seine geschlossenen Augenlider einen Traum zu Vorschein gezaubert
hatte, den er sein ganzes Leben lang nicht vergessen sollte. Könnte er
ihn doch vergessen! Dann hätte er vielleicht ein erträglicheres Leben.
Dieser Mann lebte schließlich nur noch für seinen verschwundenen Traum.
Einzelheiten wusste er kaum noch; es war ja der erste Traum gewesen von
jemandem, der nicht darauf gefasst war, einem ahnungslosen Jungen ohne
Erfahrung. Der Traum hatte etwas von altem Wein, goldgelb wie Morgenlicht
über den Hügeln; und von diesen Hügeln stammte der Wein auch: Zunächst
von einer singenden Menge Weinarbeiter mit um den Kopf gebundenen Tüchern
in Bottichen plattgetreten, dann gärend, dann die Hügel hinunterströmend.
Hätte man ihn gefragt, was für ein Gefühl der Traum bei ihm hervorgerufen
hatte, dann würde er geantwortet haben: Das Gefühl dieses Traumes
goldgelb. Eine goldgelbe Verzückung, eine absolute Glückseligkeit. Gleichzeitig
Verlangen erweckend und Befriedigung schenkend, etwas unsagbar Abenteuerliches,
etwas, das immer wiederkehren sollte und das trotzdem nur einmal geschah
was das Letzte betrifft, hatte er sich sicher nicht getäuscht.
Es wurde in dem Traum Musik gemacht: bestimmte überirdische Klänge, die
sich anhörten wie ein Summen oder wie ein Hallen oder der Gesang von jenen
Arbeitern; ein Geräusch, das durch seinen ganzen Körper klang, als ob
große Künstler zu seiner eigenen unaussprechlichen Freude von innen auf
seinen hohlen Knochen bliesen. Welch eine Erleichterung, bewerkstelligt
durch diese Musik! Man muss sich einmal vorstellen: dies ist ein Junge,
der Schwierigkeiten hat oder diese Schwierigkeiten herbeikommen fühlt;
das große Leben beginnt, aber die Anderen, Lehrer oder Konkurrenten, sind
ihm schon lange voraus, wie eine große unerbittliche Uhr, der er mit der
Armbanduhr in der Hand hinterher rennt - die Uhr steht auf einem Wagen,
der sich schnell fortbewegt , während seine Armbanduhr zu allem
überfluss auch noch nachgeht! Das Schlimmste daran ist, dass man diese
zwei Rückstände nicht zugleich einholen kann, denn wenn man stehen bleibt,
um die Armbanduhr richtig zu stellen, dann entkommt die Uhr auf dem Wagen,
und wenn man das Richtigstellen während des Rennens versucht, dann kriegt
man die Zeiger mit den zitternden Fingern nie auf die rechte Stelle. So
ein Junge muss weiterleben, und auch noch ziemlich schnell, mit tausend
Vorbildern vor Augen; und außerdem muss er sich die Zeit gönnen, sich
selbst all diesen Vorbildern, einem nach dem anderen, anzugleichen. Eine
hoffnungslose Aufgabe! Es fehlte wenig, und man wäre am liebsten wieder
zurückgekehrt, durch das Alter von sechzehn Jahren zurückgeworfen wie
ein Lichtbündel von einem Spiegel. Wer sich an sich selbst spiegelt, spiegelt
sich sanft, aber wer durch den Spiegel hindurch muss, dem wird hart zugesetzt.
Aber dann war zu diesem Mann der Traum gekommen, um ihm zu zeigen, dass
das nicht nötig war, dass man nicht zurück musste und nicht vorwärts,
sondern dass man ausweichen konnte. Der Traum brachte das Versprechen
einer immer wieder erneuerten Unendlichkeit: kein Leben ging verloren;
es gab vielleicht Schwierigkeiten, aber man steckte selbst in ihnen, wie
Blut in einem Körper, das sich seinen eigenen Weg sucht und, bei der Verästelung
einer Schlagader angekommen, sich nicht fragt, ob es nach links oder rechts
muss. In seliger Ruhe auf dem Hügelrücken der Weinkelterer ausgestreckt,
genoss er sowohl was war, als auch was kommen sollte; und auch was kommen
sollte war schon da. So um nur ein Beispiel zu geben konnte
man sich die Farbe Blau, das rührendste Blau jungen Enzians, nicht besser
vorstellen, als an diesen in seinen feinsten Verfaserungen doch goldgelb
ausgefallenen Traum zu denken; und so war Stille in jenem Gesang eingeschlossen,
und Fröhlichkeit in der Wehmut, die durch den Gesang hervorgerufen wurde.
Das ganze Leben war in diesem Traum; aber in einer besonderen Weise, einer
Weise, die für das wirkliche Leben vielleicht nicht geeignet war.
Der Mann erwies sich, als er nun einmal erwachsen geworden war, als nicht
sonderlich klug und auf ziemlich eigenwillige Weise borniert; und nach
ungefähr zehn Jahren, da der Traum sich nicht wiederholte, fühlte er sich
in unerhörter Weise zum Narren gehalten. Er blieb unverheiratet und hatte
niemanden, mit dem er reden konnte. Eine lange Zeit ging vorüber, ohne
dass er an seinen Traum dachte, aber den Verlust fühlte er immer, und
je mehr er sich in seine Träume vertiefte, desto irreparabler kam ihm
der Bruch, den er in seinem sechzehnten Jahr erlebt hatte, vor. Wüst oder
erhaben, selig oder teuflisch konnte er träumen, es war immer anders.
Wenn er daran dachte, dass sich so etwas nicht erzwingen ließ, wurde er
wütend; dann fühlte er sich verkannt, vom Schicksal zurückgesetzt, und
manchmal ging er so weit, zu unterstellen, dass man ihm seinen Traum abgeluchst
habe. Es gab eine bösartige Macht, die den Traum verhinderte oder vor
ihm versteckte oder einfach stahl. Wer der Schuldige war? Vielleicht jeder,
vielleicht alle Menschen gemeinsam. Von seinem Argwohn ließ er wenig merken;
allerdings wurde sein Argwohn im Umgang mit Menschen anfänglich weniger
dadurch erregt, dass er tatsächlich meinte, dass sie seinen Traum gestohlen
hatten, als durch die Angst, dass sie seine tiefsten Gedanken erraten
könnten. Außerdem war er neidisch. All diese Menschen schienen ihm, auch
als Träumer, glücklicher zu sein als er. Sie hatten ihren Traum im Leben
verwirklicht gefunden oder aber sie hatten nie geträumt und schmarotzten
nun bei anderen, mit einer blendenden Leichtigkeit, die sich vor allem
bei öffentlichen Zusammenkünften enthüllte, wo emsige Träumer einen Traum
aus ihrem Zylinder zu Vorschein zauberten, den sie dann dem Meistbietenden
zum Kauf anboten. Aber da es niemand offen eingestand, dass er keine Träume
hatte, wurde niemals ein Gebot abgegeben, und die Traumlosen waren deshalb
auf Diebstahl angewiesen. Heimlich zog man einem anderen den gewünschten
Traum wie eine langes Band hinten aus dem Kopf, und auf dem Band war der
Traum gemalt.
Es war ein kalter Wintertag, als er, an einem Kino vorbei spazierend,
stehen blieb, um die Fotos zu betrachten. In Schaukästen hingen die Abbildungen
übereinander; nicht nur aus dem Hauptfilm, sondern auch aus dem komischen
Vorfilm, der Wochenschau, dem Zeichentrickfilm und dem Naturfilm. Von
Letzterem gab es Fotos, die seine Aufmerksamkeit erregten. Nachdem er
ein wenig getrödelt hatte, zog er einen Handschuh aus, steckte seinen
Spazierstock unter den Arm und trat ein. Da er gut gekleidet war, ließ
der Portier, den er bat, den Direktor sprechen zu dürfen, ihn sogleich
ein, und kurze Zeit später stand er in einem salonartigen Raum, auf den
Logentüren führten, dem Direktor gegenüber. Dieser fragte ihn, womit er
ihm dienen könne.
'Damit', sagte der Mann, der sich auf seinen Stock lehnte und die Augen
auf einen schlappen, sackartigen Feuerwehrschlauch in der Ecke gerichtet
hielt, 'dass Sie mich darüber aufklären, wie Sie an den Film kommen, da
draußen, für den man meinen Traum benutzt hat.'
'Ihren Traum?', fragte der Direktor, 'ich habe keine Ahnung; welchen
Film meinen Sie?'
'Dass müssten Sie besser wissen als ich. Den Naturfilm, wenn es nicht
ein anderer ist. Ich sah da Hügel und Menschen, kurzum meinen Traum.
Dieser Film ist mein Traum, der mir vor Jahren entwendet wurde.'
'Sind Sie Drehbuchautor?', fragte der Direktor vorsichtig. Er wollte
gerne jemand anderem zuzwinkern oder mit dem Finger gegen seine Stirn
tippen, aber sie waren hier nur zu zweit. Außerdem hatte der Eindringling,
der, auch wenn er sich beherrschte, ziemlich aufgeregt wirkte, einen Stock.
Aber der Direktor war nicht umsonst acht Jahre lang Direktor, und die
gewünschte Lösung fand er beinahe ohne nachzudenken.
'Treten Sie hier ein, mein Herr', sagte er lebhaft und er führte den
Besucher zu einer der Türen, die, das wusste er, auf eine gänzlich leere
Loge hinausging, 'dann können Sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen,
ob wir gestohlene Filme zeigen oder Filme mit Drehbüchern, die von jemand
anderem sind. Der Film, den Sie meinen, hat übrigens kein Drehbuch. Naturfilme
haben so etwas nicht. In fünf Minuten beginnt er. Es wird mir ein Vergnügen
sein, Sie zu Gast zu haben.' Und er rieb sich die Hände und verbeugte
sich. In fünf Minuten steht hier ein Polizist, nahm er sich vor, und dann
konnte weiter geschehen, was wolle.
Der Mann, der seinen Worten mit großem Ernst gefolgt war, nickte zum
Dank und sagte: 'Ich kann mich natürlich irren. Aber falls es sich wirklich
um meinen Traum handelt, bestehe ich darauf, ihn so rasch wie möglich
zurück zu erhalten.'
'Sicher, sicher', lächelte der sich verbeugende Direktor.
Mit gelassenem Schritt, den Stock wieder unter dem Arm, verschwand der
Mann in der Loge. Der Direktor telefonierte mit dem Portier, und der Portier
holte einen Polizisten, der sich bei dem Feuerwehrschlauch aufstellte
als ob er eigentlich der Feuerwehrmann sei, während der Direktor, dennoch
etwas nervös geworden, weiterhin in der Nähe der Logentür hin und her
schlenderte, hinter der der Mann jetzt saß und sich den Naturfilm ansah,
der, wie der Direktor sich deutlich erinnerte, nichts Traumhaftes hatte
es war nicht einmal ein Farbfilm, aber bei Verrückten konnte
man nie sicher sein. Ungefähr zehn Minuten verstrichen; es passierte nichts.
Vergebens wartete man auf Lärm aus der Loge, Protestrufe oder den Stock
gegen die Leinwand, vergebens blickten auch die mittlerweile verständigten
Platzanweiserinnen nach oben. Dort in der Loge glühte nicht einmal die
Zigarrenspitze des gefährlichen Mannes, der von ihrem Direktor dort eingeschlossen
worden war.
Sehr lange dauerte es. Da die Anwesenheit des Direktors anderswo erforderlich
wurde und es doch auch nicht anging, den Mann das ganze Programm bis zuletzt
umsonst sehen zu lassen, gab er dem Polizisten ein Zeichen und öffnete
die Logentür. Der Zeichentrickfilm ging gerade zu Ende, die Loge war vage
erleuchtet, den Mann sah er nicht. Er ging nach vorne, eine Treppe hinunter,
sah nach links und rechts, dann wurde mit einem Mal das Licht angedreht,
und der Mann war nirgends zu entdecken, wie er sich auch umsah. Da war
er doch kurz erschrocken.
In der vordersten Reihe saß ein Junge von ungefähr sechzehn Jahren, ziemlich
schäbig gekleidet, mit glattem Haar und rundem Rücken. Er sah nicht auf,
als der Direktor auf ihn zukam. Sein Gesicht war verschlagen und voller
Pickel, die Augen waren von einem kränklichen schellfischartigen Blau
mit grollendem Ausdruck: solch ein tief eingefressener Groll, wie ihn
der Direktor noch niemals bei einem Jungen dieses Alters wahrgenommen
hatte und er kannte doch eine ganze Menge von ihnen, mit stark wechselndem
Personal und einem offenen Blick für die Folgen der Arbeitslosigkeit.
Obwohl er seit Beginn der Vorstellung in der Nähe der teuren Logen gestanden
hatte, sowohl zur Kontrolle als auch sozusagen zum Empfang, hatte er den
Jungen übersehen. Aber wo war dann der Mann?
Er suchte überall. Er ging sogar soweit, über das Geländer zu spähen,
als ob der Mann sich in den Saal hätte herabsacken lassen können. Er begegnete
den Blicken einiger Platzanweiserinnen und mindestens der Hälfte der Besucher.
Glücklicherweise ging das Licht rasch für den Hauptfilm aus.
Nachdem er seine elektrische Lampe angeknipst hatte, sprach er den Jungen
mit dem abstoßenden Äußeren an und fragte ihn nach seiner Eintrittskarte.
Unter unbegreiflichem Gemurmel wies der Junge unter die leere Sesselreihe,
an deren äußerem Ende er so zusammengekauert saß. Dort auf dem Boden lagen,
teilweise in Schnipseln, bestimmt zwanzig Logenkarten; unschlüssig ließ
der Direktor das Licht seiner Lampe darüber spielen und erwog, dass es
unter seiner Würde wäre, dort herumzugrabbeln. Darum ließ er den Jungen,
der dort schließlich nichts Böses tat, sitzen und verließ die Loge unter
dem Abschießen kleiner Lichtbündel zwischen die Sesselreihen, als ob er
sich mit dem Verschwinden des Mannes noch nicht abgefunden habe.
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